Mordreds Tales
© 2010 – 2024 Marcel Wolters







 

Der Axe-Effekt



Es war einst ein Kosmetikhersteller, der behauptete, ein Astronaut kenne jedes Mädchen im Universum. Ich hielt die Behauptung für gewagt. Ich halte die Behauptung immer noch für gewagt. Die einzige Frau, die ich außerhalb der Erdatmosphäre finden konnte, war Irina. Obwohl man unter diesem Gesichtspunkt tatsächlich sagen könnte, ich würde alle Frauen des Universums kennen. Zumindest, wenn die Erde nicht zum Universum zählt.

Wer ich bin? Mein Name ich Richard. Ich gewann einen Trip ins Weltall und habe ein Problem. Doch lassen Sie mich der Reihe nach erzählen.

Fragt man kleine Jungs, was sie später mal werden wollen, ist die Auswahl der Antworten nicht groß. Feuerwehrmann, Kapitän, Astronaut. Das waren die Standardantworten in meiner Klasse, als ich 8 war. „Käpt’n Kirk” war eine der spezifischeren Antworten. Warum ausgerechnet Käpt’n Kirk? Ganz einfach: Im Vorabendprogramm lief „Raumschiff Enterprise” und ich war begeistert von den Abenteuern der 400 Mann starken Besatzung, die fünf Jahre durch Weltall flog, um Welten zu entdecken, die niemand je zuvor sah. Erst mit 9 Jahren realisierte ich, dass die Menschheit noch Lichtjahre davon entfernt war, schneller als das Licht durch das Universum zu reisen und dass ich wohl niemals Kirk heißen würde. Mein Enthusiasmus blieb ungebremst. Ich wollte Kommandant meines eigenen Raumschiffes werden.

Ich wurde älter und es kam, wie es kommen musste: Ich wurde nicht Raumschiffkapitän sondern Bibliothekar. Mein Enthusiasmus und meine Faszination für das All blieben ungebrochen und so machte ich mir den Spaß, mich für einen Weltraumtrip zu bewerben, den jener Hersteller für Herrenkosmetik zu verlosen gedachte. Nicht eine Minute zweifelte ich daran, dass ich … nicht ausgelost würde. Nicht eine einzige Minute. Aber den Versuch war es wert. Ich hatte ja nichts zu verlieren.

Meine Bewerbung für den Weltraumtrip hatte ich schon erfolgreich aus meinen Gedanken verdrängt, als mich ein Brief erreichte und mir voll Freude dazu gratuliert wurde, den Trip ins All gewonnen zu haben. „Wow!”, dachte ich ungläubig. „Ich werde Astronaut!”

Ich sagte niemandem etwas. Meiner Familie nicht, meinen Freunden nicht. Ich wollte sehen, ob sie es selbst herausfinden, wollte eine Überraschung daraus machen. Niemand kam auf die Idee, dass ich demnächst alle jungen Damen der Milchstraße kennen würde, einzig zeigte man sich verwundert darüber, dass meine Zeit plötzlich deutlich knapper wurde. Ich lächelte über entsprechende Nachfragen und belehrte die Fragenden, sie mögen Geduld haben, wenn die Zeit gekommen wäre, würden sie alles erfahren. So gingen Wochen und Monate harten Trainings ins Land und meine Fitness erreichte ein Level, auf dem sie seit meinem zweiten Lebensjahr nicht mehr war.

Dann kam endlich der Tag, an dem ich meine Reise antreten sollte. „Ich fliege nach Kasachstan”, war die einzige offizielle Erklärung, die ich zu geben bereit war. „Was willst’n da?” „Abenteuerurlaub im Nirgendwo, oder was?” „Biste unter die Ölbohrer gegangen? Keene Lust mehr uff Bücher?” Ich lächelte zur Antwort auf jede dieser Fragen und hüllte mich in Schweigen. „Wenn Du nach Russland fliegen würdest, würde ich ja sagen, Du bist der Glückliche mit dem Weltraumtrip”, meinte eine Freundin. Baikonur liegt nicht in Russland. Aber das verriet ich ihr nicht. Und so kam es, dass ich ein paar Tage später aus einer Sojus-Kapsel in die ISS umstieg.

Ich glaube, ich verrate nicht zu viel, wenn ich von dem atemberaubenden Anblick spreche, den die Erde von hier oben bietet. Kein Foto, sei es noch so gestochen scharf und noch so groß an die Wand tapeziert, wird dem wahren Gefühl gerecht, das wohl einen jeden Raumfahrer ergreifen muss, wenn er zum ersten Mal aus dem Fenster eines Raumschiffes auf den blauen Ball blickt, auf dem wir unser Dasein fristen. Weiße Schleier verdecken große blaue und grüne Flächen, sandiges Braun der Wüsten leuchtet von der Sonne beschienen dem Astronauten entgegen. Es gibt keine Worte in unserer Sprache, die auch nur im Ansatz ausdrücken können, warum sich in meiner Kehle spontan ein Kloß bildete. Nun ja … Abgesehen vielleicht von den Worte, die beschreiben, dass mir das Fehler der Schwerkraft in den ersten Minuten etwas zu schaffen machte, aber dieser Kloß im Hals ist nichts gegen das, was der Anblick in mir auslöste.

Drei spannende Tage später machte man mir ein Angebot, das ich unmöglich ablehnen konnte: Ich wurde zu einem Spaziergang im Weltall eingeladen. Ich sah die Besatzung der Station erstaun an und fragte, ob sich mich veräppeln wollten. Das Angebot war ernst gemeint und stolz, euphorisch und mich in die Träume meiner Kindheit versetzt fühlend nickte ich. Nach einer Sicherheitsunterweisung und der unmissverständlichen Ansage, ich solle auf jeden Fall tun, was man mir sage, schritten wir zu dritt durch die Luftschleuse. Paul, ein Amerikaner, Irina Malenkova, eine Russin und ich. Eine Viertelstunde lang sollte mir vergönnt sein, zu genießen, was wohl das Maß aller körperlichen Freiheit sein muss. Kein Schwerkraft, die mich an den Boden fesselt, keine engen Räumlichkeiten, die nur wenig Bewegung zulassen. Nur die Sterne, der Mond, die Erde und absolut freies Schweben. Und das war, wie mein Problem begann.

Professor Murphy sagte, dass alles schief geht, was schief gehen kann. Er drückte es etwas anderes aus, benutzte hochwissenschaftliche Termini, aber unterm Strich sagte er genau das: Alles was schief gehen kann geht auf schief. Der Spaziergang im All sollte fünfzehn Minuten dauern. Diese fünfzehn Minuten sind seit einer halben Stunde um und ich bin immer noch hier draußen. Niemand weiß warum meine Sicherheitsleine riss, aber sie tat es. Offenbar hatte sie keine Lust mehr, zeigte mir noch grinsend den Effenberg und ließ mich dann los. Ultima libertas – so ähnlich hätte es der Römer ausgedrückt. Natürlich mit fehlerfreier Grammatik, aber meine einzige Berührung mit der lateinischen Sprache waren Asterix-Comics und die Schilder im Zoo, auf denen die Tiernamen auf Wissenschaftlich vermerkt waren.

Leider ist diese ultimative Freiheit nur das Jin. Zu jedem Jin gibt es ein Jang und mein Jang in diesem Moment ist der Umstand, dass ich ziellos im Weltall schwebe. Als ich bemerkte, dass mich keine Sicherheitsleine mehr hält, drehte ich mich, um mich zu orientieren. Hätte ich in der Schule besser aufgepasst, hätte ich gewusst, dass mich dies zusätzlich in Bewegung versetzt. Ehe ich eine stabile Position erreichte, war ich ein gutes Stück von der Station weggedriftet. Selbst, wenn man die volle Länge des Seils, mit dem man normalerweise daran gehindert wird, in meine Situation zu kommen, ausnutzen würde – ich bin zu weit weg. Lost in space sozusagen. Verdammte Hacke.

Denk nach, Junge! Du bist nicht hier hoch geflogen, um in 15 Jahren noch als biologischer Weltraumschrott die Erde zu umkreisen. Obwohl … Das müsste mich in Guinness Buch der Rekorde bringen. Der Mann, der am längsten in einem geostationären Orbit ist.

Keine Panik! So lustig, wie alle taten, war das Buch von Douglas Adams zwar nicht, aber in einem hat der Reiseführer „Per Anhalter durch die Galaxis” Recht: Keine Panik! Meine Geschwindigkeit relativ zur Raumstation ist nahe null. Das ist ein Hoffnungsschimmer. Auch für die restliche Besatzung. Es verschafft ihnen ein bisschen Zeit, einen Plan zu entwickeln.

Wenn ich Arme und Beine wie ein Schwimmer bewege, könnte mich das in Bewegung versetzen, auch wenn hier kein Wasser ist, das es zu verdrängen gilt. Zumindest tut es das, wenn ich den Impulserhaltungssatz und das Wechselwirkungsgesetz richtig verstanden habe. Habe ich aber nicht. Also lasse ich den Versuch lieber. Nachher bin ich der erste Mensche des 21. Jahrhunderts der den Mond betritt und der nächste Bus auf der Linie Mond – Erde dürfte auf sich warten lassen.

„Keine Panik!”, tönt es aus dem Funkgerät. „Du wirrst nicht chnell genug sein, um dän Ärdorbit zu verlassen.”

Ich mag Irinas Stimme. Ich mag Irinas Akzent, wenn sie deutsch spricht, wie sie das R rollt, wie das E einem Ä ähnlich wird. Keine Panik! Sag ich ja! Und die Antwort ist 42. Wie zum Henker war doch gleich die Frage? Und hatte ich wirklich laut gedacht?

Die Sterne sehen hier oben anders. Vorsichtig drehe ich den Kopf, entdecke Skandinavien und den Nordpol. Nur den verdammten Polarstern kann ich nicht finden. Wie soll ich jetzt meinen Weg finden? Schwerelos schwebend zwischen seltsam andersartigen Sternen – ich erwische mich dabei, die Melodie als eine alten Liedes zu summen. Ein zauberhaftes Kichern erreicht mein Ohr, dann stimmt Irina ein und singt die passenden Textzeilen. Ich konnte den Text nie. Schön ist das Lied trotzdem. Besonders, wenn Irina singt.

Irinas Textkenntnisse versagen. Macht nichts, irgendwie finden wir das lustig und lachen. Warum spricht nur Irina mit mir? Warum spricht mich sonst niemand an? Die Fragen klingen seltsam unsinnig in meinen Ohren, als ich sie laut stelle. Irina ist die Einzige, die außer mir draußen ist. Die Anderen planen in der Station meine Rettung.

Ich könnte mich von dem nächsten alten Satelliten abstoßen, der meine Bahn kreuzt. Dann muss mich nur jemand auffangen. Ich kann Irinas aufmunterndes Lächeln vor meinem inneren Auge sehen, als sie mir verspricht, genau das zu tun. Vorausgesetzt, ich finde ein Stück Schrott, das sich eignet. Ich muss lachen.

OK, Junge, bleib ruhig! Halte Deine Gedanken beisammen und konzentriere Dich. Du bist eine knappe Stunde hier draußen und die Atemluftvorräte reichen höchstens noch weitere 15 Minuten In der Station ist man offenbar noch nicht viel näher an einer Lösung. Also denk nach und sieh zu, ob Dir nicht selbst etwas einfällt.

Sollen die weißen Punkte wirklich große, gelbe oder rote oder blaue Sonnen sein? Und wie sähe eigentlich der Himmel aus, wenn die Erde eine rote Sonne hätte?

Wahrscheinlich trotzdem blau. Der Himmel ist ja blau, weil die Ozonschicht den blauen Spektralanteil des Sonnenlichts stärker streut und auch in einer roten Sonne wären ein bisschen blau. Irgendwie klingt diese Erklärung ziemlich unromantisch. Andererseits kam mir unser Physiklehrer auch nicht allzu romantisch vor. Er kam bestimmt vom Jupiter. Oder von einem seiner Monde.

Verdammt, Junge, lass den Unsinn! Ich muss schon wieder lachen. Man kann mein Lachen vermutlich inzwischen hysterisch nennen. Der Mediziner würde jetzt vermutlich sagen, dass die situationsbedingt vermehrt ausgeschütteten Stresshormone die Endorphinproduktion angeregt haben. Genauso unromantisch. Warum kann der Doktor nicht einfach sagen, ich sei gut drauf? Wissenschaftler! Man kann nicht mit ihnen leben und ohne sie könnten wir nicht ins All fliegen. Andererseits wäre ich dann nicht in dieser misslichen Lage.

Was passiert eigentlich, wenn ich die Augen schließe, meinen Geist leere und kurz und tief meditiere? Kann ich dann die Macht benutzen? Wahrscheinlich würde ich eher einschlafen, als dass die Macht mich erreicht.

Schluss mit dem Unsinn, Junge! Ich komme aus dem Lachen gar nicht mehr raus!

Junge! Und wie Du wieder aussiehst! – Memo an mich selbst: Die Ärzte mal wieder hören.

Genug jetzt! Reiß Dich zusammen! Denk nach, Kerl! Während ich mich zusammenreiße und einen ernsthaften Gedanken zu fassen versuche, stelle ich mir die Frage, die die Antwort auf mein Problem bringen muss: Was würde Chuck Norris tun?

„Err würrde miet einem Roundhousekick dän Raum krümen und so zur Station zurühkkären”, erklärt Irina, die sich offenbar von mir anstecken lassen hat.

„May I interrupt you?”, kommt Paul durch das Funkgerät. „We’re working on a solution but still have found none. For the moment we’ll try to supply you with some additional air.”

Großartig. Man will mir einen extra Luftvorrat zukommen lassen, bis man endlich einen Plan hat.

„Ich hoffe”, meint Irina kichernd, „Du muust nicht zu driengend aufs Klo.”

Doch, muss ich. Und ich habe keine Lust, diesen verdammten Raumanzug zu schrubben.

Also: Ich habe keine Ahnung von Kampfsport. Ich kriege keinen Roundhousekick hin. Die Methode von Chuck Norris fällt also aus. Was würde mein großes Vorbild Käpt’n Kirk machen? Er würde sich rein beamen lassen. Soweit ist die Menschheit noch nicht. Was würde … Viele Helden meiner Jugend sind nicht mehr übrig und die Luft wird knapp.

MacGyver! MacGyver war ein helles Köpfchen. Zwar habe ich weder Kaugummi noch Antibabypille dabei um mir einen Raketenantrieb zu basteln, aber MacGyver wäre bestimmt etwas eingefallen.

„I’m stepping out with an extra airtank”, lässt sich Paul vernehmen. Ich bestätige, seine Nachricht. Aber es bringt mich nicht weiter. MacGyver … Was würde Mac …

„Luft!”, rufe ich.

„Du kriegst gleich mär Luuft”, versucht Irina, mich zu beruhigen.

„Schon gut, ich habe eine Idee!”

„Welche?”

„Wo bist Du genau, Irina?”, frage ich.

„Zän Mätärr hienter Dir. Was hast Du vor Richard?”

Ich liebe es, wie sie die Vokale in meinem Namens verdunkelt.

„Poymay menya!”

„Konjeschno!”, flüstert Irina, offenbar erstaunt darüber, dass ich russisch spreche.

Was also würde MacGyver tun, wäre er in meiner Lage? Die physikalisch korrekte Antwort wäre, dass er das Wechselwirkungsgesetz ausnutzen würde. Der normale Mensch würde wohl einfach vom Rückstoßprinzip sprechen und meinen Plan mit dem Loslassen eines aufgeblasenen Luftballons vergleichen.

Ich atme dreimal tief durch. Langsam bewege ich meine Hand zum Überdruckventil meiner Sauerstofftanks und öffne es.

„Richard!”, ruft Irina erschrocken. Ich fange an, mich rückwärts zu bewegen.

„Poymay menya!”, flüstere ich. „Fang mich auf!”



***




Als Kind wollte ich immer Astronaut werden. Raumschiffkapitän. Ich bin jetzt erwachsen. Ich bin Bibliothekar von Beruf und bekleide diese Profession mit Freude und Stolz. Und ich war Astronaut. Vier Tage lang war ich im Weltall, schwerelos, schwebend, für eine kurze Zeit so frei, wie man nur sein kann.

Der Erde Schwerkraft hat mich wieder. Ich liege in einem Hotelbett in Moskau. Irina ist in meinem Arm eingeschlafen. Die Erde und ihre Schwerkraft haben mich wieder. Und ich schwebe doch.


KurzgeschichtenStartseite


 
Besucher bisher:


derzeit online:

Lasst Freunde teilhaben!



Des Lords Heim


Besuchet mich!

letzte Updates:

- 06.08.2013 eine Geschichte nach einem Zitat von Benjamin Franklin
- 02.08.2013 Er war einer der größten Komiker unseres Landes. Groß Menschen soll man ehren.
- 30.07.2013 Ein Hexenjäger geht um.
- 23.07.2013 Und noch ein Gedicht...

   
öffnen

neuester Gedankensplitter:
31.05.2021
Wie soll das Kind heißen?


gdnobds.de –
Willkommen beim Weltuntergang!


Warning: DOMDocument::load() [domdocument.load]: Document is empty in /users/mordred/www/zweitetales/gdnobds.xml, line: 1 in /users/mordred/www/zweitetales/update.php on line 96

Fatal error: Call to a member function getElementsByTagName() on null in /users/mordred/www/zweitetales/update.php on line 100